Hassemer war von 1996 bis 2008 Richter und am Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe und zuletzt dessen Vizepräsident. Zuvor arbeitete er als Datenschutzbeauftragter des Landes Hessen.

Quelle und ganzer Artikel: https://www.zeit.de/online/2009/21/hassemer-privatsphaere

Hassemer: In der Tat. Wir müssen uns, gerade angesichts des Grundrechtereports, die Frage stellen, was sind Grundrechte für uns eigentlich noch. Ich glaube, sie haben ihre klassische Funktion, Abwehrrechte gegen den Leviathan, den gefährlichen Staat zu sein, nicht vollständig verloren. Aber sie haben sie doch merklich eingebüßt. Es ist nicht mehr so, dass sich die Bürger vor dem eingreifenden Staat fürchten und deshalb die Grundrechte als Abwehrrechte brauchen. Es ist vielmehr so, dass sie auf den Staat hoffen, weil sie ihm zutrauen, dass er ihre Probleme löst: Kontrollbedürfnisse, Furcht vor Kriminalität et cetera. Sie sehen bei der Finanzkrise, wie viel Vertrauen dem Staat als Helfer in der Not entgegengebracht wird. Die Bürger sehen den Staat anders als 1960.

ZEIT ONLINE: Wie bewerten Sie diese Entwicklung?

Hassemer: Ich beobachte sie. Mir persönlich wäre es lieber, wir hätten das Freiheitsparadigma stärker als das Paradigma der Sicherheit. Ich versuche zu tun, was ich kann, damit sich das wieder ändert.

ZEIT ONLINE: Sie warnen vor der „überbordenden Präventionsmentalität“. Müssen wir in erster Linie unsere eigene Angst bekämpfen?

Hassemer: Das sind zwei verschiedene Schauplätze. Die Prävention ist ein dialektischer Prozess. Sie hat ihr Vernünftiges und ihr Zwingendes und ihr Richtiges. In einem modernen Staat kommen wir von der Prävention nicht mehr weg.

ZEIT ONLINE: Aber sie hat ein Problem…

Hassemer: In der Tat, sie hat das Problem, dass ihr keine Bremse eingebaut ist. Wir müssen präventiv begründete übermäßige Interventionen stoppen. Was nichts daran ändert, dass Prävention als Paradigma richtig ist.

ZEIT ONLINE: Wenn sie so richtig ist, wie lässt sich Prävention dann begrenzen?

Hassemer: Durch die Verhältnismäßigkeit. Die letzten spektakulären Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts arbeiten zentral mit der Verhältnismäßigkeit. Sie ist ein sehr kluges Prinzip. Sie hat nämlich auch zwei Vorraussetzungen, die empirisch sind: die Geeignetheit und die Erforderlichkeit. Das heißt, etwas muss tatsächlich zur Erreichung des gesetzlichen Ziels geeignet sein, und es gibt keine milderen Mittel, die ähnlich geeignet sind. Das lässt sich überprüfen. Das ist gut. Empirie ist immer gut, denn man kann sich bei ihr leicht blamieren, wenn man von falschen Vorraussetzungen ausgeht.

ZEIT ONLINE: Aber der Gesetzgeber drückt sich gerade vor dieser Überprüfbarkeit, man kann den Eindruck bekommen, dass Evaluationen nur sehr ungern in Gesetze hineingeschrieben werden…

Hassemer: Ja, das ist sehr bedauerlich. Auf diese Weise sammeln sich wie auf einer Halde Eingriffsmöglichkeiten des Staates, die am Ende gar nicht verwirklicht werden, weil beispielsweise die Polizei gar nicht in der Lage ist, sie einzusetzen.

Die Einstellung der Bürger zur Prävention ist ein anderer Schauplatz. Unsere Kontrollbedürfnisse, unsere Orientierungslosigkeit müssen wir in den Griff bekommen, wir dürfen nicht nach jedem Strohhalm greifen, der wie eine Hilfe aussieht. Hinzu aber kommen noch andere Überlegungen.

ZEIT ONLINE: Welche?

Hassemer: Zum Beispiel der Grundsatz, dass man den Leuten keine Angst machen darf. Das halte ich nicht nur für ein politisches, sondern auch für ein moralisches Konzept. Weil Sicherheitsbedürfnisse unstillbar sind und in ihrer Massierung eine ausgewogene und wirklichkeitsnahe Politik verhindern können.

ZEIT ONLINE: Dann wäre die Schäublesche Prämisse, es dürfe keine Denkverbote geben, also Alarmismus?

Hassemer: Ich glaube, anders herum, wir dürfen mit den Denkgeboten nicht zu früh aufhören. Natürlich darf jemand öffentlich über Sicherheit nachdenken, gerade wenn er Innenminister ist. Aber der nächste Schritt wäre der, darüber nachzudenken, was dann mit unserer Gesellschaft passiert, wenn wir das alles umsetzen.

ZEIT ONLINE: In der Sesamstraße hieß das früher das „Was-passiert-dann-Spiel“…

Hassemer: Die Sesamstraße kenne ich nicht so gut, aber bei uns in der Schule hieß das „et respice finem“ – und bedenke die Folgen.

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